Thesen zum Lernen im digitalen Wandel
Lisa Rosa hat in ihrem ausführlichen Blog-Artikel im Oktober 2016 gefragt, "Welche "digitale Bildungsrevolution" wollen wir?" Eine große und wichtige Frage, die leider oft hintenüberfällt. Es ist so viel einfacher davon zu berichten, was die nächste heiße App für den Unterricht ist und welche Chancen sie für den jugendnahen Unterricht bietet, meint auch Anselm Sellen. Das nächste Produktivitätstool der web-begeisterten Lehrer bekommt auf Twitter garantiert mehr Likes als unbequeme Fragen zum modernen Wissensbegriff. Aber gerade letzteres hat Lisa Rosa versucht. Sie hinterfragt Sachverhalte und wer ihre Texte kennt, der weiß, dass sie nicht den leichten Weg geht. Letzten Donnerstag hatte ich nun das Vergnügen, einen Vortrag von Lisa Rosa zu hören und anschließend länger mit ihr und Dejan Mihajlović zu reden, weil er sie unter der gleichen Überschrift nach Freiburg eingeladen hatte. Den Vortrag kann man derzeit noch bei Persiscope anschauen (demnächst vielleicht auch bei YouTube), die Präsentation hat Lisa Rosa hier zur Verfügung gestellt. Aber auch andere machen sich ähnliche Gedanken. Beispielsweise hat Philippe Wampfler in der letzten Woche einen #EDchatDE-kritischen Artikel im Freitag veröffentlicht, in dem er ebenfalls grundlegende Bedingungen für digitale Bildung benennt. Axel Krommer hatte sich in der Vorläuferveranstaltung zu Lisa Rosas Vortrag auch kreative Gedanken gemacht: Was kann, soll und muss #DigitaleBildung? Dominik Schöneberg denkt auf Bildungslücken in eine ähnliche Richtung und erläutert viele problematische Ebenen im Schulsystem. Ich möchte mich nun darin versuchen, diese Quellen zu Thesen zu verdichten, denn sie sind zu wichtig um bei der Diskussion rund um digitale Bildung* oder besser Lernen im digitalen Wandel zu fehlen.
Die digitale Bildung wird der Wirtschaft überlassen, die Bildungsexperten verschlafen sie.
Die Digitalisierung des Unterrichts, der Schule und der Bildung ist mittlerweile in aller Munde. Nicht nur die Politik versucht das Thema werbewirksam zu inszenieren, sondern v.a. die Wirtschaft positioniert sich für die nächsten großen Aufträge. Das ist für Lisa Rosa selbstverständlich, weil Bildung im Kapitalismus eine Ware ist, die konsumiert werden soll. Dementsprechend machen sich wirtschaftsnahe Stiftungen und Konzerne daran, das Bildungssystem nach ihren Vorstellungen zu gestalten - zumal die Bildungsexperten eine große Lücke offen lassen. Politikerinnen und Politiker spielten in diesem Machtspiel schon immer mit und das kann man meiner Meinung nach auch aktuell im medienwirksamen Wirbel um die Platine "Calliope Mini" beobachten. Angeblich sollen alle Schülerinnen und Schüler in der Grundschule einen solchen Calliope Mini bekommen und darauf Programmieren lernen. Dahinter stehen finanzstarke Investoren wie Google, Bosch und Cornelsen. Das ist auch notwendig, denn die Finanzierung ist mehr als fraglich, obwohl hochrangige Politikerinnen und Politiker sich mit dem Programmierzwerg ablichten ließen. Die Begeisterung ist groß:
In Fachkreisen wird schon geraunt, der Calliope mini könne das Schulsystem revolutionieren (Andreas Fasel).
In dieser Äußerung wird deutlich, wie technikfokussiert Bildung oftmals verhandelt wird. Dass fast nur begeisterte Stimmen zu hören sind und vielerorts von Revolution die Rede ist, spricht eine deutliche Sprache (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ein Gerät könne begleitet durch Unterrichtsmaterialien zum Programmieren das Schulsystem grundlegend verbessern? Selbst wenn viele der mit dem Calliope zusammen gedachten Unterrichtsszenarien umgesetzt würden (und einige Ideen klingen wirklich spannend): Wer sich so die zentralen Weichenstellungen für ein zukunftsfähiges Bildungssystem vorstellt, verpasst möglicherweise den Kern dessen, worum es bei der Digitalisierung der Bildung geht. Denn die Frage, ob das Programmieren wirklich eine Grundfertigkeit sein wird, die wir in Zukunft alle brauchen werden, ist doch mehr als fraglich. So stellt Andreas Schleicher in einem lesenswerten Streitgespräch gar die Behauptung auf:
Niemand kann sagen, ob es Programmierung in 20 Jahren überhaupt noch gibt.
Der Calliope Mini ist für mich hier nur ein Beispiel dafür, wie kritische Fragen im digitalen Bildungsdiskurs gar nicht erst gestellt werden wenn Wirtschaft und Politik Hand in Hand digitale Bildung anpacken.
Wichtig ist an dieser Stelle zu betonen, dass es Lisa Rosa nicht darum geht, den Einfluss der Wirtschaft per se zu verteufeln. Wirtschaft verstanden als Teil von Kultur hat natürlich ihre Berechtigung im System Schule. Worum es ihr allerdings geht und das halte ich für richtig: Die Wirtschaft beeinflusst unter dem Schlagwort digitale Bildung den Diskurs darüber, welchen Bildungsbegriff wir für richtig halten und welche Bildungsziele wir verfolgen. Bücher und Internetseiten werden veröffentlicht, Konferenzen geprägt und Lobbyarbeit betrieben. Die eigentlichen Bildungsexperten schaffen es im Gros nämlich wie gesagt kaum, ihre eigenen Vorstellungen zu entwickeln und politisch durchzusetzen. Es ist nicht schwer, darin eine Hegemonie zu erkennen, in der der Kapitalismus Macht ausübt, aus dem dann z.B. Sichtweisen stammen wie, man müsse die Effizienz der Schule steigern oder Schülerinnen und Schüler müssten schon nach acht Jahren Abitur machen. Gleiches gilt für das Programmieren im Grundschulalter. Pädagogisch und bildungswissenschaftlich wurde das im Diskurs quasi nicht begründet. Die Zukunft des Arbeitsmarktes genügt der Allgemeinheit als Argument. Wie schlecht sich der Calliope Mini selbst legitimiert ("5 Gründe, warum Kinder programmieren sollten"), interessiert dann auch keinen mehr:
Na dann! Wenn die logische Begründung digitaler Bildung so dilettantisch (und im modernen Look) durchgeführt wird und vielleicht gerade deswegen legitim ist, gilt es umso mehr darüber zu diskutieren, inwiefern wir Konzernen und deren Stiftungen im Bereich bildungswissenschaftlicher und -systemischer Weichenstellungen eine solch zentrale Rolle zugestehen wollen.
Der digitale Wandel ist mehr als ein Wandel der Technik. oder: Die Tools der digitalen Bildung basieren auf einem alten Wissensbegriff.
Wenn es um digitale Bildung geht sind die Tools, die Geräte und Apps oft das, worauf es den Lehrerinnen und Lehrern in aller erster Linie ankommt. Ich selbst gebe ja zu, dass von ihnen eine enorme Anziehungskraft ausgeht. Technik begeistert. Wer sucht nicht nach Möglichkeiten, den Unterricht schülernäher und zeitgemäßer zu gestalten? Digitale Medien scheinen sich dafür per se zu eigenen. Doch in vielen Fällen bleibt der Fokus auf der Technik stehen und hier wird es problematisch. Viele Debatten verlaufen immer wieder in Fragen nach iPad-Klassen versus BYOD oder WLAN-Ausstattung versus Handy-Verbot im Sande. Natürlich sind solche Fragen wichtig. In der Diskussion nach Lisa Rosas Vortrag wurde beispielsweise der Technologie-Fokus auf Produkte von Apple beklagt, der im Bildungsbereich um sich greift. Aber auch Google, Microsoft und andere Player geben sich natürlich Mühe, ihr Stück Kuchen vom Bildungsmarkt abzubekommen. Dies gilt es weiterhin kritisch zu hinterfragen, denn man stellt sich ja nicht einfach eine Technik in die Schule, sondern man "kauft" immer auch ein ganzes Ökosystem an in Apps getarnten Bildungsvorstellungen dazu (Sollte die Bildungspolitik nicht beispielsweise viel mehr Geld in die Hand nehmen, um offene OpenSource-Lösungen und -Apps zu fördern?). Problematisch ist vielmehr, dass die Medienkonzepte meist hinter einer solchen oberflächlichen Technikdebatte zurückbleiben.
Hinzu kommt, dass digitales Lernen oft synonym als individuelles Lernen verstanden wird, nur weil doch alle Lernenden Aufgaben gemäß ihrem Leistungsstand und ihrem Lerntempo bearbeiten könnten (neuerdings auch visualisiert und individuell inklusiv wie bei Ivi-Education). Diese Verwendung des Begriffs der Individualisierung ist absichtlich verkürzt. Oft werden nämlich die individuellen Fragen und Interessen innerhalb des Lernprozesses sowohl am Anfang (Welche Fragen interessieren die Individuen?), in der Mitte (Wie wollen die Individuen arbeiten?) als auch am Ende (Welche Lernprodukte wollen die Individuen erstellen?) einfach vernachlässigt. Heraus kommt dabei ein digitaler Unterricht, der die Selbstständigkeit der Lernenden in enge Vorschriften zwängt. Hingegen würde echte Individualisierung möglichst viele Phasen des Unterrichts einbeziehen. Solange das nicht umgesetzt wird und alle weiterhin auf standardisierte Ziele hinarbeiten dient der Begriff der digitalen Individualisierung vor allem der Legitimierung des Einsatzes digitaler Technik. Diese Gefahr besteht meiner Meinung nach auch beim momentan sehr angesagten Modell des Flipped Classroom ("Become part of a movement!"). Vom Lehrenden aufgenommene Videos, die die Lernenden bereits als Vorbereitung erarbeitet haben, werden im Unterricht dann "nur noch" diskutiert - quasi wie vorbereitende Hausaufgaben. Axel Krommer sieht zumindest für den Deutschunterricht ein Problem darin, dass in den schicken, geflippten YouTube-Videos in erster Linie alter Unterricht aufgenommen und konserviert wird, Videos ersetzen traditionelle Hausaufgaben.
https://twitter.com/mediendidaktik_/status/725360296630575105
Lisa Rosa fasst zusammen: Die Digitalisierung darf nicht nur als technologischer Wandel verstanden werden. Sie verändert, und ja sie revolutioniert nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche, von der Finanzökonomie bis zur privaten Kommunikation. Und ja, auch die Bildung und das Lernen. Die Masse an Informationen, zu denen Schülerinnen und Schüler heute Zugang per Touch und Mausklick haben, macht das Hinterfragen von Quellen zu einem Kern medienkompetenter Menschen und das World Wide Web ist voller neuer, globaler Kommunikationsformen und -möglichkeiten. Wenn nun Schule aber zu weiten Teilen auf alten Lernvorstellungen und althergebrachten Methoden und Zielen im Gewand neuer Medien beruht, dann verfehlt das System seine Aufgaben ganz gewaltig.
Dies lässt sich an einigen Tools der digitalen Bildung veranschaulichen. Aktuell greifen nämlich die Toolifizierung und die Quizifizierung des Unterrichts um sich. Gamification heißt ein weiteres Stichwort, das in aller Munde ist. Kahoot! ("Making Learning Awesome!") lässt sich von Tagungen zum Thema digitale Bildung nicht mehr wegdenken und zwischendurch knabbert man noch an ein paar Learningsnacks, "kleine leicht verdauliche Wissenshäppchen." Die Begründung lautet oft: Es macht den Lernenden Spaß oder es sei effektiver. Lisa Rosa beschreibt nun, dass sich hinter solchen Tools und Befragungspraktiken ein Wissensbegriff versteckt, der schon seit Jahrzehnten in der Wissenschaft nicht mehr aktuell ist. Auch Axel Krommer macht dies mit einem selbst erstellten Video deutlich, in dem er die Vorstellung des behavioristischen Lernens auf einer weiteren verbreiteten Plattform namens LearningApps kritisiert.
[caption id="attachment_1857" align="alignnone" width="940"] Die LearningApp Instrumentenzuordnung[/caption]
Wissen wird in solchen Tools verwechselt mit Information, die ins Gehirn hinein muss und die man anschließend überprüfen kann. Der Behaviorismus und die Konditionierung stehen Pate wenn das Wahre einfach vom Unwahren getrennt wird. So einfach macht man sich die Welt, auch wenn das in heutiger Wissenschaft und in Zeiten von FakeNews schlicht nicht haltbar ist. Dass Wissen auch immer an Erfahrungswissen und explizites Wissen geknüpft ist, so wie es ein aktueller Wissensbegriff vertritt, wird dabei übersehen.
Selbst die Forderungen nach einem wie auch immer festgelegten "Basiswissen" oder eines Kanons in Form von Kenntnissen wird mit der Digitalisierung immer fragwürdiger, denn was soll das sein? Zwar lassen die kompetenzorientierten Lehrpläne eigentlich viel Spielraum für Unterricht abseits von Informationsabfragen, doch die eingesetzten Tools sind auf das Verstehen von Kontexten und Bedeutungen in den aller meisten Fällen nicht ausgelegt (Natürlich mag es auch Lernszenarieren geben, in denen Kahoot, LearningApps und Learningssnacks Sinn machen, wie z.B. beim Vokalbellernen - es geht aber bei dieser Zuspitzung um die Tendenz der Tools). Der Kompetenzbegriff verkommt dabei zu einem unwissenschaftlichen Kompetenzbegriff. Für Weinert sind Kompetenzen eigentlich die
bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (Weinert 2001: Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel: 27 f.)
Im Schulsystem müssen Kompetenzen jedoch, und das widerspricht Weinerts Kompetenzbegriff im Kern, überprüfbar sein. Lernen wird in Wissens- und Kompetenzstadien unterteilt und das Gelernte wird - und mit Tools und Apps macht das viel mehr Spaß - überprüfbar gemacht, obwohl das mit den genannten Bereitschaften gar nicht machbar geschweige denn sinnvoll ist. Das heiß diskutierte Learn-Tracking kopiert diese veraltete Vorstellung dann einfach weiter ins digitale Zeitalter und die Welt von Big Data: Eine Überwachung mit Kamera und Tablet vermeintlich aller Lernfortschritte der Lernenden. Was uns damit als moderne und kompetenzorientierte Bildung verkauft wird, ist eher Rückschritt als Fortschritt. Learning wird einfach ein 'e' vorgesetzt.
[caption id="attachment_1548" align="aligncenter" width="372"] (kopiert von Axel Krommer)[/caption]
Ein aktuelles Verständnis von dem, was Lernen ist, wird dabei viel zu oft ignoriert. Es entzieht sich nämlich zu weiten Teilen jeder Überprüfbarkeit. Bezeichnenderweise ist ein Video von der Villa Wewersbusch, das Lisa Rosa in ihrem Vortrag ausschnittsweise gezeigt hatte, anschließend aus dem Netz genommen worden. Das Video aus dem Internat, das sich als digitale Apple-Pionierschule zu profilieren versucht, zeigte einen digitalen Unterricht mit iPads zum Thema Demokratie, der mit einer Kahoot!-Befragung und anderen digitalen Medien begann. Lisa Rosa ließ die Zuhörer ihres Vortrags darüber diskutieren, ob es sich dabei um einen gewinnbringenden Einstieg in die spannende Thematik handele. Sicherlich nicht, war die einhellige Antwort bezogen auf den kurzen Ausschnitt. Ein zielführender, aktivierender Stundenbeginn sieht anders aus auch wenn die Schülerinnen und Schüler brav ihre Fragen beantworten. Eigene Fragen entwickeln, eigene Erfahrungen einbringen oder auch ein problematisierender oder irritierender Input wären spontan einige Ideen, wie man es hätte besser machen können. Warum werden diese Tools dann trotzdem so begeistert eingesetzt und wie in einem solchen Video beworben?
Es gibt wenig konstruktiven Umgang mit Kritik im Bildungssystem.
Genausowenig wie alle der genannten Tools generell zu verteufeln sind, so sind natürlich auch nicht alle Lehrerinnen und Lehrer über einen Kamm zu scheren - natürlich! Trotzdem wage ich mich mit der These mal weit aus dem Fenster, denn der #EDchatDE bietet aktuell unfreiwillig ein Indiz dafür, dass der Umgang mit Kritik weiterhin eine große Baustelle im Bildungssystem ist. Was war passiert? Die Digitalisierung hat die Kommunikation verändert und so haben sich auch neue Formen des Austausches über Bildungsfragen entwickelt. Im deutschprachigen Raum ist der #EDchatDE wohl eine der am weitesten verbreitete Community, die sich jeden Dienstag Abend auf Twitter trifft - ich selbst habe darüber viel Spannendes gelernt. Nun zeigt sich aktuell jedoch - Auslöser war ein Buch über den Chat -, dass der Umgang mit sachlicher Kritik an Grundprinzipien des Formats von den Initiatoren nicht angemessen aufgenommen wurde. Einer der Hauptkritiker, Philippe Wampfler, hat dies in einem Freitag-Artikel ausgeführt. Seine anfängliche Rezension des Buches findet sich hier und in einem Video bringt er seine Vorstellung vom kritischen Denken folgendermaßen auf den Punkt:
Kritisches Denken, das geht gar nicht, wenn ich mich nicht reibe mit anderen Leuten, wenn ich nicht bereit bin, meine Standpunkte transparent zu machen, sie zu überdenken, sie zu überarbeiten.
Lehrpersonen sind nun in vielen Fällen alles andere als wirklich kritikfähig, mich selbst eingeschlossen. Das liegt natürlich einerseits an unserer Position in einem Schulsystem, das keine wirkliche Feedback-, Supervisions- und Fehlerkultur vorsieht. Dass Lehrpersonen häufig zwischen den widersprüchlichen Rollen des Helfenden und des Benotenden hin und her springen müssen, erschwert den positiven Umgang mit Kritik an uns Lehrenden ebenfalls. Zugleich üben wir aber natürlich die ganze Zeit Kritik an den Lernenden. Auch im bestehenden Schulsystem haben wir aber durchaus viele Möglichkeiten, die Schülerinnen und Schüler ernst zu nehmen und auf ihre Kritik und auch auf die Kritik von Kolleginnen und Kollegen einzugehen. Wir müssen es sogar tun und die Strukturen müssten das per default ermöglichen. Das Beispiel des #EDchatDE zeigt, dass sich zwar viele zu einer solchen umfassenden Kritikfähigkeit bekennen (die 4K waren auch Gegenstand eines #EDchatDE) aber sie nicht verinnerlichen. Übertragen auf die Schule wird Kritik immer noch mit Schwäche assoziiert anstatt sie konstruktiv einzusetzen. Warum ein Umdenken gerade in diesem Punkt im digitalen Zeitalter jedoch immer wichtiger werden wird, verraten auch die 4K.
Für eine Orientierung an den 4K braucht es grundlegende Änderungen im Schulsystem und ein Umdenken.
Die von Andreas Schleicher aufgestellten 4K (Kommunikation, Kreativität, Kollaboration und Kritisches Denken) sind ein wichtiger Bezugspunkt für alle, die über Bildung im 21. Jahrhundert nachdenken. In Philippe Wampflers Worten:
Digitale Medien werden hier als Mittel zu einem neuen Lernen begriffen. Dieses neue Lernen versteht nur, wer es selbst praktiziert. Die Perspektive der Lernenden ist dabei der Ausgangspunkt. Um tragfähige und umsetzbare Lösungen für konkrete Probleme zu finden, braucht es Kreativität, Kommunikation, Zusammenarbeit – und die Fähigkeit, Kritik als Ressource zu verstehen, nicht als Belastung.
Weiter unten im gleichen Freitag-Artikel nennt Wampfler dann drei Bedingungen für das Gelingen digitaler Bildung. Erstens müsse immer vom persönlichen Lernen ausgegangen werden. Zweitens brauche es dafür diverse und offene Lernumgebungen. Und drittens sollen die Lernenden ihre Lernprozesse selbst bestimmen - echte Individualität eben. Damit rückt eine Handlungs-, Problem- und Projektorientierung in den Fokus, die z.B. in der Geographie-Didaktik vielerorts schon vorgesehen ist aber sich unter den starren Vorgaben kaum entfalten kann. Dominik Schöneberg bringt dieses Missverhältnis zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstand und der Schulrealität hier auf den Punkt.
Es liegt auf der Hand, dass es grundlegende Reformen im Schulsystem bräuchte, um die 4K und die Forderungen von Wampfler umzusetzen und auf die tiefgreifenden Veränderungen zu reagieren, die mit dem Übergang vom Industrie-Zeitalter ins Digital-Zeitalter verbunden sind. Viele Akteure gehen jedoch den einfacheren, kommerziellen Weg, die digitale Technik einfach als Vorzeigeprodukte einer modernen Schule darzustellen und das System dahinter eben nicht grundlegend zu verändern. Lisa Rosa, Dejan Mihajlović, Axel Krommer, Dominik Schöneberg, Philippe Wampfler und andere plädieren nun - jetzt, wo sich das Ob der digitalen Bildung zu einem Wie verändert hat - dafür, auf den Ebenen, auf denen man sich befindet - im Unterricht, im Kollegium, in der Schulleitung oder in der Bildungspolitik -, eine grundlegende Umwälzung anzufangen und der Frage nachzugehen, welche digitale Bildung wir wollen. Nur so könnten notwendige Veränderungen wie die Überwindung der Fächergrenzen, mehr Teamarbeit, mehr Problem- und Handlungsorientierung, eine echte Individualisierung des Lernens und ein ständiges Weiterlernen der Lehrenden und Lernenden sicher gestellt werden - und das alles unter den Bedingungen der Digitalisierung. Dass das nicht der leichtere Pfad ist, ist klar. Der Weg bedeutet in vielen Bereichen den Kontrollverlust und das ist es, was vielen Strukturen und Lehrpersonen womöglich am meisten Angst macht. Lernen im Netzwerk anstatt in einer Hierarchie.
Welche "digitale Bildungsrevolution" wollen wir?
Für Lisa Rosa stehen wir am Scheideweg zwischen dem auf Konditionierung und Behaviorismus beruhenden Lernverständnis eines digitalen Kapitalismus mit seinen Tools und Apps auf der einen und einem emanzipatorischen Lernverständnis in Netzwerken auf der anderen Seite. Dieser Gegensatz ist bewusst zugespitzt und nicht aufrechtzuerhalten. Es spricht allerdings viel dafür, aktuelle Entwicklungen zum Anlass zu nehmen, sich zwischen diesen Polen über Lernen im digitalen Wandel kritisch und grundlegend auszutauschen.
* Mir ist klar, dass der Begriff "digitale Bildung" nicht sonderlich gelungen ist. Ich spreche lieber von Lernen im digitalen Wandel. Nichtsdestotrotz prägt er (auch als Hashtag #digitaleBildung) den Diskurs und macht kurz und knapp deutlich, um welche Themen es geht.